Sonntag, 8. Mai 2022

Professor Wolfram Bernhard (1931-2022) - Nachruf

"... diesen Charakter der steten Vernichtung"

Mein Lehrer am Anthropologischen Seminar der Universität Mainz, Professor Wolfram Bernhard (1931-2022) (Uni Mainz), ist im Februar diesen Jahres mit 90 Jahren gestorben (Tr.a.).

Ich habe 1993 bis 1995 bei ihm studiert und mich von ihm auch für das Erste Staatsexamen in Biologie prüfen lassen (schriftlich und mündlich).

Ich habe ihn immer als sehr menschlich, ja, geradezu als behutsam erlebt.

Ich habe es persönlich nie erlebt, aber ich weiß, daß er an der Universität Mainz scharfer Kritik ausgesetzt war. Insbesondere von Seiten von Studenten, die sich als besonders "fortschrittlich" wähnten, wenn sie eine altüberkommene Forschungsrichtung wie die Physische Anthropologie der übelsten Absichten und Machenschaften verdächtigten und beschuldigten. Solche Angriffe (die auch am Anthropologischen Seminar in Hamburg und vielerorts sonst wüteten) waren in jenen Jahren vollkommen ungerechtfertigt.

Prof. Bernhard
Aber ich hatte das Gefühl, daß diese Angriffe Professor Bernhard  schwer getroffen haben, daß sie ihn schwer belasteten. Das spürte man, auch ohne daß er jemals darüber irgendein Wort verloren hätte (zumindest in meiner Gegenwart). Man gewann den Eindruck, daß er ihnen gegenüber nur noch sprachlos und ohnmächtig verstummen konnte.

Meines Wissens und meiner Erfahrungen nach war Professor Bernhard gar nicht in irgendeiner Weise ein "Kämpfertyp", der solche Art von Anfeindungen und Kritik besonders leicht weggesteckt hätte. Von seiner ganzen Haltung her war er Mediziner, Arzt.

Aus der Traueranzeige, die viel von der zurückhaltenden, menschlich anmutenden Art von Professor Bernhard atmet, geht hervor, daß Professor Bernhard drei Kinder und elf Enkelkinder zurück gelassen hat. Offenbar sind alle seine drei Kinder ebenfalls Ärzte geworden.

"Ein der Wissenschaft gewidmetes Leben ist zu Ende gegangen,"

ist dort festgehalten dort (Tr.a.): 

"Wir sind dankbar dafür, daß er uns ein wertvoller Unterstützer und Ratgeber war und zu dem gemacht hat, was wir heute sind."

Der Traueranzeige in ein Schopenhauer-Wort vorangestellt:

"Das Tier lernt den Tod erst im Tode kennen: der Mensch geht mit Bewußtsein in jeder Stunde seinem Tode näher, und dies macht selbst dem das Leben bisweilen bedenklich, der nicht schon am ganzem Leben selbst diesen Charakter der steten Vernichtung erkannt hat."

Das ist ja eigentlich doch auch ein schreckliches Wort für einen Nachruf. Aus ihm kann man - wenn man will - viel von der inneren Trauer, ja, geradezu von der "Vernichtung" heraushören, die die Jahre langen Angriffe an der Universität auf ihn ausgelöst haben, und die man während seiner Vorlesungen auch glaubte, schon so erahnen zu können.

Politische "Aktivisten" jeder Coleur mögen solche Worte zweimal lesen, um eine Ahnung zu bekommen von dem, was sie anrichten, anrichten können bei weniger grobschlächtigen Menschen als sie selbst es - nur allzu meist - sind. Wie auch wollte man mit gar zu heftigen, emotionalen und vollkommen ungerechten Verunglimpfungen und Herabsetzungen die Welt zu einem "besseren Ort" machen? Völlig unmöglich.

Ja, Professor Bernhard konnte auf seine Mitmenschen zeitweise wie erstorben wirken. Ja. Und man konnte den Eindruck gewinnen, daß dort die Behutsamkeit und die Freundlichkeit herrührten, mit denen er auf Menschen zuging. 

Sucht man nun nach der Herkunft dieser Schopenhauer-Worte, kann man finden, daß sie in einem Aufsatz enthalten sind, der ebenfalls von einer Mainzer Hochschullehrerin verfaßt worden ist (1), und zwar von einer solchen, die in jenen Jahren bei dem hoch zu schätzenden Philosophie-Professor und Vorsitzenden der Schopenhauer-Gesellschaft Rudolf Malter wissenschaftliche Hilfskraft war, in denen ich selbst ebenfalls bei ihm studiert habe. 

Rudolf Malter wird sie also mit seiner Schopenhauer-Begeisterung ebenso angesteckt haben wie er so viele andere in seinen Vorlesungen und Seminaren für Philosophie ganz allgemein begeistern konnte. Wo immer Menschen aufeinander treffen, die einmal in Vorlesungen bei Rudolf Malter gesessen haben, da ist sofort eine inneres Band da, eine "Gemeinsamkeit", die höher ist als alle Vernunft (so möchten wir hier einmal sagen).

Und so sicherlich auch bei jenen, die Professor Bernhard einmal kennen und schätzen gelernt haben.

Wundervolle, schöne, leidreiche Mainzer Studentenjahre, wohin seid ihr entschwunden!

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  1. Helke Panknin-Schappert (Mainz): Arthur Schopenhauer und die Paradoxie des Todes. In: Schopenhauer-Jahrbuch 2006 (pdf)

Dienstag, 3. Mai 2022

Die "Republik der Gelehrten"

Ist das Antlitz unseres Zeitalters alternativlos?
- Nein, "Gesellschaftlicher Aufbruch - jetzt!" Eine andere Zeit ist möglich
- Im folgenden aufgezeigt am Zeitalter der "Gelehrtenrepublik" des 18. Jahrhunderts, an einer Malerin wie Élisabeth Vigée-Lebrun und ihren hinreißenden Gemälden

"Republic of letters" (Wiki) - der Begriff fällt ins Auge und begeistert, wenn man ihn in einer Rezension erwähnt findet (1). Zu Deutsch "Republik der Gelehrten" (Wiki). Und zwar in der Rezension eines neuen Buches über die europäische Wissenschaftsgeschichte. Da ist nämlich die Rede von ... (1)

... den wissenschaftsgeschichtlichen Stichworten, nach denen die Wissenschaftsgeschichte heute üblicherweise gegliedert wird (die Revolution der Druckerpresse, die Republik der Gelehrten, der Öffentliche Raum, die Aufklärung, Demokratie und die Industrielle Revolution).

Lauter bedeutsame Dinge. Zuvor war schon die Rede gewesen von ebenso bedeutsamen Dingen, von den ... (1)

... bekannten europäischen Marksteinen des Fortschritts: Kopernikanisches Weltbild, Newton'sches Weltbild, Naturgeschichte nach Linnae, Elektromagnetismus nach Maxwell.

In so wuchtigen, kurzen Aufzählungen benannt, was das Leben von Tausenden, von Millionen Menschen erfüllte, prägte, formte, was uns heute ausmacht. Aber von all diesen Dingen fällt uns bei dieser Gelegenheit am meisten ins Auge: "Republic of letters", "Republik der Gelehrten". Was für ein großes Bild ersteht vor uns, was für ein Panorama entfaltet sich allein schon mit der Nennung dieser kurzen Worte: "Republic of letters".

Abb. 1: Charles Alexandre de Calonne (1734-1802) (Wiki) - französischer Reformpolitiker und Finanzminister unter Ludwig XVI. - Portrait der französischen Malerin Élisabeth Vigée-Lebrun (1755-1842) (Wiki), die auch sonst viele hinreißende Portraits geschaffen hat, darunter mehrere der preußischen Königin Luise

Was für eine Zeit, als edelgesinnte Geister und Gemüter - über ganz Europa hinweg - eine unsichtbare Republik bildeten, eine Republik von Gelehrten und Schöngeistern, die in einer "anderen Zeit" lebten oder gar "zeitlos", die jedenfalls ihrer eigenen Zeit weit voraus waren, die den Niederungen des Alltags entwunden waren, die einem schöneren, edleren Zeitalter entgegen strebten - durch Wissenschaft und Forschung, durch Beschäftigung mit Kunst und Kunstgeschichte, mit Literatur und Literaturgeschichte, durch Liebe und Begeisterung für alles Edle und Schöne.

Oh, Republik der Gelehrten, komm wieder. Möchte man nicht in die Arme dieser Republik sinken, sich in sie fallen lassen, frei sein, edel sein, dem Fortschritt zugeneigt sein? Wozu soll man noch - - - "Reichsbürger" sein, wenn man Angehöriger einer Republik von Gelehrten sein kann?

Die Republik der Gelehrten geht auch noch über die schöngeistigen Tafelrunden, wie sie etwa am Hofe Friedrichs des Großen in Sanssouci stattgefunden haben, hinaus. Sie führt direkt in die Studierzimmer der Gelehrten selbst. All das "Zwischenmenschliche", all die - womöglich oberflächlichen - Neckereien, Heiterkeiten, all der Zank auch, der neckische oder ernsthaftere, all der Unfriede, all die äußere, aufreibende Unruhe der Zeit, die auch noch bis in manche Tafelrunde und in manchen Salon hinein geschwappt sein mögen, sie alle sind aus dieser "Republik" verbannt.

Hier brennt die ewige Sonne der Wahrheit. 

Hier brennt die ewige Sonne der Freiheit. 

Hier brennt die ewige Sonne der Schönheit und des Edelsinns.

In diese Republik werden nur jene Geister aufgenommen - und sie werden nur insoweit aufgenommen - als sie gleichen Willens sind, von gleicher innerer Freiheit erfüllt sind, von gleicher Hoffnung auf bessere Tage erfüllt sind, auf eine bessere Welt, von gleicher Sehnsucht nach "Zukunft", nach den Inseln der Seligen.

Abb. 2: Madame de Polignac, die engste Vertrauten der französischen Königin Marie-Antoinette (Wiki), gemalt 1782/83 von Élisabeth Vigée-Lebrun (heute im Palast von Versailles) - Zu jener Zeit stand sie auf der Höhe ihres Einflusses, der ab 1785 zu schwinden begann

Ohne frage, das besprochene Buch (1) wartet offenbar auch sonst mit einigen neuen Einsichten auf: Die Kopernikanische Wende ist durch die astronomischen Beschäftigungen im islamischen Bereich während des Mittelalters vorbereitet worden. Die Newton'sche Wende durch Erkenntnisse, die nur durch Seefahrt und Seehandel zu gewinnen waren.

Das "Überleben des Stärkeren" des Charles Darwin hat sich im "Frontier"-Idealismus der US-amerikanischen Siedler wieder gefunden. Insbesondere Marxisten haben sich für die Quantentheorie, Relativitätstheorie und Genetik begeistert. Alles das ist gewiß einerseits ein wenig gar zu plakativ. Andererseits wird aber in jeder dieser Aussagen dennoch ein wesentliches Körnchen Wahrheit stecken.

Die Besprechung kommt zu dem Schluß, daß bei aller Einbindung der europäischen Wissenschaftsgeschichte in außereuropäische Bezüge sie dennoch "eurozentrisch" bleibt (1):

Auch fast alle nicht-europäischen Forscher, die hervorgehoben werden, sind entweder an europäischen oder US-amerikanischen Instituten ausgebildet worden.

Oh je, was haben Wissenschaftshistoriker heute für Sorge. An Stelle solcher Erörterungen wäre doch womöglich noch viel angemessener, daran zu erinnern, daß es solche Republiken von Gelehrten auch im antiken Griechenland gegeben hat. Ganz Griechenland war voller Gelehrter und Philosophen und Künstler in einer Dichte, wie sie es zuvor und später nie wieder gegeben hat. Eine solche Republik von Gelehrten hat es ebenso schon im Tang-zeitlichen China oder auch davor gegeben. Und auch in anderen Hochkulturen auf dieser Erde. Die Möglichkeit einer "Republik von Gelehrten" war und ist keineswegs etwas spezifisch Europäisches. 

Abb. 3: Selbstportrait, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun (1790) (heute in den Uffizien)

Aber in der Neuzeit sind es eben nicht mehr China oder Griechenland oder der Vordere Orient oder Indien, die an der Spitze der geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Menschheit stehen, sondern das eben ist nun Europa. Und mit mancherlei Gründen wird ja wohl auch gemutmaßt können, daß die Tage "dieses" Europas gezählt sein könnten. (Wer darüber jubeln mag, mag es ja gerne tun ... Soweit wir heutige Stimmen zum Beispiel aus China recht verstehen, gibt es dort über ein solches Geschehen keinen Jubel, sondern eher: Entsetzen.)

Aber zurück zu unserem konkreteren Thema. Was erfahren wir zusätzlich, wenn wir uns ein wenig umschauen zu dem Thema "Republic of letters", "Republik der Gelehrten"? 1774 etwa veröffentlichte der deutsche Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) (Wiki), der damals bei allen deutschen Dichtern hoch verehrte Dichter des "Messias", sein Buch "Die deutsche Gelehrtenrepublik". Goethe schrieb damals noch im gleichen Jahr dazu:

"Klopstocks herrliches Werk hat mir neues Leben in die Adern gegossen. Die einzige Poetik aller Zeiten und Völker. Die Einzige Regeln die möglich sind!" 

Damals war noch Begeisterung in der Welt. Begeisterung für Tugend, für Wahrheit, für Schönheit. Und wir erfahren (Wiki):

Klopstocks aufgeklärte Utopie "Die deutsche Gelehrtenrepublik" (1774) ist ein Konzept, das für die als regierungsunfähig angesehene Fürstenherrschaft eine gebildete Elite in die Macht einsetzt. Die Republik soll von "Aldermännern", "Zünften" und "dem Volke" regiert werden, wobei den ersteren - als den gelehrtesten - die größten Befugnisse zukommen sollte, Zünften und Volk entsprechend weniger. Der "Pöbel" hingegen bekäme höchstens einen "Schreier" auf dem Landtage, denn Klopstock traute dem Volk keine Volkssouveränität zu. Bildung ist in dieser Republik das höchste Gut und qualifiziert ihren Träger zu höheren Ämtern. Entsprechend dem gelehrsamen Umgang geht es in dieser Republik äußerst pazifistisch zu: Als Strafen zwischen den Gelehrten veranschlagt Klopstock Naserümpfen, Hohngelächter und Stirnrunzeln.

Da dürfte doch mit leichter Hand schon eine Art Gegen-Entwurf gezeichnet worden sein zu jener Art von internationaler Oligarchie ("Fürstenherrschaft"), in der wir ja noch heute in allen Teilen Europas und Amerikas zu leben gezwungen sind. Denn es dürfte sich ja wohl inzwischen herumgesprochen haben können, daß der Begriff "Demokratie" eine Verballhornung jener Verfassungswirklichkeit ist, in der wir leben, womöglich seit "Demokratie" irgendwo in der Neuzeit überhaupt offiziell eingeführt worden ist.)

Klopstock, de Calonne, Vigée-Lebrun

Auf der Suche nach einem Vorschaubild stoßen wir noch auf ganz andere Seiten dieser "Republik der Gelehrten". Und deshalb binden wir als erstes Bild (und zugleich Vorschaubild) ein Portrait des französischen Reformpolitikers und Finanzministers unter Ludwig XVI. ein, Charles Alexandre de Calonne. Dasselbe wurde geschaffen von der französischen Malerin Élisabeth Vigée-Lebrun (1755-1842) (Wiki) (Abb. 1). Diese hat auch sonst viele hinreißende Portraits geschaffen. Darunter im Jahr 1801 auch mehrere der preußischen Königin Luise (GAj). Aber dieses Portrait des französischen Reformpolitikers mag aus den vielen ihrer schönen Bildern noch einmal besonders hervor stechen. Und genau deshalb stellt man sich auch die Frage, was das eigentlich für ein Mann war, der hier portraitiert worden ist.

Abb. 4: Élisabeth Vigée-Lebrun - Selbstportrait mit Tochter (1786) (heute im Louvre)

Und man stellt fest: Dieser befähigte Staatsmann hätte, wenn König Ludwig XVI. ihn nicht zwei Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution entlassen hätte, diesselbe verhindern können! Und was für ein hinreißend schöner Mann war er zugleich! Zumindest auf dem Portrait dieser Künstlerin Vigée-Lebrun.

In ihrer Kunst ist auch sonst die ganze Seligkeit dieser Epoche eingefangen worden. Diese war eben nicht nur von wissenschaftlichem Wahrheitsdrang erfüllt, sondern auch von politischem Freiheitsdrang und von Sehnsucht nach Schönheit und dem Ausdruckgeben von Schönheit - in der Kunst. Wie erstaunlich, wie ungewöhnlich, dies alles in einer Zeit vereinigt zu sehen. Was für ein Wunder geradezu, wenn man darauf von heute her blickt.

Wie weit sind wir heute von all dem entfernt. Welche Fülle an begeisternden Gemälden hat allein diese eine französische Malerin geschaffen, eine Künstlerin, von der die meisten Leser vermutlich an dieser Stelle zum ersten mal erfahren - ebenso wie der Verfasser dieser Zeilen selbst erst - während der Suche nach einem geeigneten Vorschaubild - auf ihre Kunst gestoßen ist. Ihre Gemälde, Portraits und Selbstportraits sind von so viel weiblichem und künstlerischem Selbstbewußtsein getragen. Man erkennt sofort: Eine selbstbewußte, emanzipierte Frau (Abb. 2-4). Und doch zugleich ist in diesen Gemälden so viel Zartheit, so viel Menschlichkeit enthalten, so viel weibliches Mitgefühl. Und wie jung diese Künstlerin war, als sie schon solche Gemälde schuf.

Abb. 5: Portrait der venezianischen Schriftstellerin Gräfin Isabella Albrizzi-Teotochi (1760-1836) (Wiki), entstanden 1792, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun nach ihrer Flucht aus Frankreich

Man erkennt sofort: Von diesem weiblichen Selbstbewußtsein war auch die Königin Luise erfüllt, die im Jahr 1801 mehrmals zum Gegenstand der Portraitkunst der Vigée-Lebrun geworden ist. Auch sie war Reformpolitikerin, auch sie gehörte den politisch fortschrittlichen Kräften ihrer Zeit an, auch auf ihr ruhten die Hoffnungen der Besten ihres Landes und ihres Volkes. Und sie war es, die den Plan hegte, Friedrich Schiller zum preußischen Minister zu ernennen. Und just in dieser Zeit starb Friedrich Schiller einen sehr frühen Tod. Und er erhielt in Jena ein sehr merkwürdiges Begräbnis. Und sein Schädel wird bis heute mit allem Eifer von der Wissenschaft gesucht.

Unbegriffene Schicksale. Wie viel Glanz, wie viel Schönheit, wie viel strahlende Selbstsicherheit selbst unter den weiblichen Künstlerinnen dieser Epoche. Wie harmlos und selbstbewußt konnten auf den Bildern der Élisabeth Vigée-Lebrun alle Zeichen weiblicher Schönheit und weiblichen Lebens zur Darstellung kommen.

Abb. 6: "Die unentschlossene Tugend" ("La Vertu Irresolue"), gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun schon 1775, also mit zwanzig Jahren

Wer möchte nicht in einer solchen Zeit gelebt haben - oder leben?

Eine Zeit, in der eine Frau, die in Bezug auf ihre Tugendhaftigkeit nicht so recht weiß, was sie will oder wollen sollte, so außerordenlich weiblich und mitfühlsam dargestellt werden konnte (Titel "Die unentschlossene Tugend", auf Französisch "La Vertu Irresolue", s. Abb. 6).

Abb. 7: Portrait einer jungen Dame als Flora, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun

Wie so außerordentlich menschlich dieses Zeitalter. 

Wie so außerordentlich entfernt von Bigotterie jeglicher Art.

Abb. 8: Sophie von Trott als Bacchantin, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun (1785)

Eine Zeit, in der sich Frauen des Adels als Bacchantinnen portraitieren lassen konnten (Abb. 8). 

Und so führt der Weg der Suche nach der Wahrheit und der Freiheit in letzter Instanz immer wieder zurück zur Entdeckung der Schönheit und der Liebe. 

Welches Zeitalter sollte dies eher bezeugen können als das Zeitalter der "republic of letters" und einer Künstlerin wie Élisabeth Vigée-Lebrun.

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  1. Jorge Cañizares-Esguerra: Rethinking the “Western” revolution in science. Rez. von James Poskett's "Horizons: The Global Origins of Modern Science" (Mariner Books, 2022. 464 pp) In: Science, 28 Apr 2022, Vol 376, Issue 6592, p. 467, DOI: 10.1126/science.abo5229, https://www.science.org/doi/abs/10.1126/science.abo5229