Samstag, 13. Februar 2021

Als einmal vergessen wurde, einen Nobelpreis zu verleihen

Durch die Beschäftigung mit einem so wenig bekannten Jahrhundert-Genie wie Lars Onsager kann auch Nicht-Physikern einmal ein wenig nahe gebracht werden, was "Verstehen" in der modernen Wissenschaft bedeuten kann.

Sind wir uns wirklich bewußt, daß die Welt vor ihrem Beginn "nur Theorie" war? 

Wer sich allerdings "nur" mit Theorie beschäftigt, kann leicht bei der Verleihung des Nobelpreises einmal vergessen werden. So geschehen mit dem Jahrhundert-Genie Lars Onsager (1903-1976) (Wiki, engl). Es war dies ein Theoretischer Chemiker aus Norwegen. Durch seine Ehefrau hatte er auch einen persönlichen Bezug zum deutschen Sprachraum: Sie stammte aus Österreich. Den größten Teil seines Lebens verbrachte Onsager allerdings in den USA.

Abb. 1: Lars Onsager, Dezember 1968 in Stockholm anläßlich der Verleihung des Nobelpreises

1968 ist Onsager der Nobelpreis verliehen worden. Und im Jahr 1970 nahm er an der Nobelpreisträger-Tagung in Lindau am Bodensee teil wie Bildunterschriften zu entnehmen ist (1). Im Jahr 1975 hat er in seinem gebrochenen Deutsch auf der Nobelpreisträger-Tagung in Lindau recht interessante Überlegungen zur Entstehung des Lebens auf der Erde vorgetragen (1). Die Abschlußveranstaltung dieser Nobelpreisträger-Tagung von 1975 fand auf der Insel Mainau nahe Konstanz statt (1, Bildunterschrift in 3:28). 

In Zusammenhang mit dieser Tagung war Onsager auch zu einem Vortrag an die Universität Konstanz eingeladen worden. Und am Abend war zu Ehren seines Besuches in Konstanz eine kleine Gesellschaft zusammen gekommen. Auf dieser war die Gesprächsatmosphäre allmählich lockerer geworden, der Wein hatte die Zungen gelöst. Das Gespräch war auf die Wikinger gekommen. Und von Seiten einer jüngeren Frau ist über diese Wikinger dann ein wenig gar zu einseitige, harsche und grobe Kritik geäußert worden. Bei dieser Gelegenheit hat der Gastgeber erleben können, daß in dem ansonsten so umgänglichen Onsager doch auch ein Herz für seine wikingischen Vorfahren schlug. Der Gastgeber mußte vermittelnd in das Gespräch eingreifen, damit die Emotionen nicht gar zu hoch schlugen.

Der Bericht davon war als ein Beispiel dafür erzählt worden, daß gerade die genialsten Wissenschaftler, Künstler und Philosophen - zu denen Onsager zählte - nicht selten eine besondere gefühlsmäßige Verbundenheit zu ihrem eigenen Land, zu ihrer eigenen Herkunft, zur eigenen Geschichte und Kultur aufweisen. Man kann dies als Zeichen wahrnehmen eines durchaus auch geheimnisvollen Wirkens angeborener, sowie über prägungsähnliches Lernen weiter gegebener gruppenpsychologischer Zusammenhänge, die noch heute kaum ausreichend erforscht sind (unter Schlagworten wie etwa "Ethnozentrismus"), für die aber womöglich gerade oft bei den genialsten Vertretern einer Kultur sich die überzeugensten Belege finden lassen.

Werner Heisenberg wäre dafür ein Beispiel derselben Generation aus Deutschland. Oder - wenn wir auf frühere Jahrhunderte zurückblicken - Wolfgang Amadeus Mozart. Gibt es doch von Mozart solche Aussagen wie:

Was mich aber am meisten aufrichtet und guten Mutes erhält, ist, daß ich ein ehrlicher Deutscher bin.

Oder aber - als er sich für deutschsprachige Opern in Deutschland einsetzte:

... Doch da würde vielleicht das so schön aufkeimende Nationaltheater zur Blüte gedeihen und das wäre ja ein ewiger Schandfleck für Deutschland, wenn wir Deutsche einmal im Ernst anfangen würden, deutsch zu reden, deutsch zu handeln, deutsch zu denken und gar deutsch zu singen.

Als der Autor dieser Zeilen auf solche Zusammenhänge hingewiesen wurde, war er etwa 20 Jahre alt und hatte noch keinerlei inneren Bezug zur modernen Naturwissenschaft gewonnen. Er war es - wie die meisten Menschen - von seiner ganzen Herkunft und von seiner ganzen Interessenlage her gewohnt, Naturwissenschaft vornehmlich als etwas "Entseeltes", "Technisch-Materialistisches" anzusehen. Deshalb hatte er zur Naturwissenschaft - trotz "Physik-Leistungskurs" in der Oberstufe in den 1980er Jahren - keineswegs einen ebenso leichten Zugang gefunden. Fächer wie Geschichte oder Zeitgeschichte lagen ihm viel, viel mehr. Mit Hilfe des eben angeführten Hinweises aber auf einen solchen Zusammenhang - nun einmal nicht: zwischen "Genie und Wahnsinn", sondern zwischen "Genie und Wohlwollen für die eigene Herkunft" - auch bei Naturwissenschaftlern konnte bei ihm ein erster etwas mehr auf der Gefühlsebene gelagerter Bezug zur modernen Naturwissenschaft geweckt und angebahnt werden.

Als eine erste weitere Brücke, um einen solchen inneren Bezug herzustellen, stellte sich - wenn die Erinnerung nicht trügt - die Lektüre der Lebenserinnerungen von Werner Heisenberg dar, betitelt "Der Teil und das Ganze". Wer dem Inhalt dieses Buches hinter her horcht, wird in ihm allezeit eine große Liebe zu Deutschland finden. Diese veranlaßte Heisenberg im Jahr 1939, nicht in die USA zu emigrieren, obwohl er in Deutschland von den Anhängern einer pseudowissenschaftlichen, wissenschaftlich völlig unfruchtbaren, sogenannten "Deutschen Physik" als "weißer Jude" bezeichnet worden war und deshalb viel Undank und Ignoranz erleben mußte, obwohl er das Nahen des Krieges ahnte und obwohl er den Unrechtscharakter des Dritten Reiches vollauf durchschaut hatte und als solchen wahrnahm und obwohl er attraktive berufliche Angebote in den USA erhalten hatte.

Aber all das nur als einleitende Hinweise auf die erste Begegnung des Autors dieser Zeilen mit einem noch heute so unbekannten Jahrhundert-Genie wie Lars Onsager. Wer aber war Lars Onsager? In diesem Beitrag soll versucht werden, von seiner wissenschaftlichen Bedeutung einen gewissen Eindruck zu vermitteln, auch wenn das schwierig ist - wie gleich deutlich werden wird und was schon zu der wichtigsten Erkenntnis dieses Beitrages gehört.

Wenn sogar einem Carl Friedrich von Weizsäcker einmal die Worte fehlen ...

Junge Menschen, die eine große Begabung für Mathematik aufwiesen und Physik studierten, konnten in den 1950er Jahren zu dem schon damals - so wie heute - öffentlich kaum bekannten Lars Onsager wie zu einem Genie aufschauen. Würde man selbst jemals etwas so Großes auf dem Gebiet der Theoretischen Physik leisten können wie Lars Onsager? So konnte sich ein solcher Physik-Student fragen. Und so wurde es dem Autor dieser Zeilen auch von einem solchen über seine Jugendzeit berichtet. Aber in wem eine solche Frage damals aufkommen konnte, der wird doch wenigstens ansatzweise Anlaß gehabt haben, sie zu stellen. Das heißt, er wird sich etwas ähnlich Großes zumindest der Absicht nach grundsätzlich schon zugetraut haben.

Daß dann in den 1970er Jahren Lars Onsager einmal zu Besuch nach Konstanz kam, wird nicht zuletzt darauf beruht haben, daß sein Konstanzer Gastgeber - inzwischen selbst Professor für Biophysik - schon lange wissenschaftliche Arbeiten vorgelegt hatte - unter anderem in Zusammenarbeit mit Onsagers vormaligem Freund und Kollegen Julian Gibbs (siehe unten) - die ihn in den Augen Onsagers zu einem interessanten Gesprächspartner gemacht haben werden. Sonst hätte ja ein solcher Besuch gar nicht zustande kommen können. Sonstige Einzelheiten aber über den Anlaß und das Zustandekommen dieses Besuches von Onsager in Konstanz, sowie über Gesprächsinhalte anläßlich dieses Besuches sind (uns) einstweilen nicht bekannt geworden (bzw. werden in einer Ergänzung am Ende dieses Beitrages nachgetragen).

Für Physik-Laien ist es noch heute schwierig, sich ein Bild von der wissenschaftlichen Leistung von Lars Onsager zu machen. Das um so mehr, wenn selbst bedeutende Physiker abwinken konnten, wenn es sich darum handelte, seine Lebensleistung einer größeren Öffentlichkeit zu erläutern. Das wurde denn auch mehr als deutlich als Lars Onsager im Jahr 1968 den Chemie-Nobelpreis erhielt. In den damaligen Wissenschaftsredaktionen der Welt machte sich - begreiflicherweise - einigermaßen Ratlosigkeit breit. Man wußte nicht, wie man das wissenschaftliche Werk von Lars Onsager einer größeren Öffentlichkeit gegenüber erläutern sollte. Dafür war es nämlich viel zu abstrakt. Im Hamburger Wochenmagazin "Der Spiegel", sonst niemals um Worte verlegen, wurde damals beklommen festgehalten - und das (wie beim "Spiegel" eh häufig) vorsichtigerweise auch ohne Autorenangabe (2):

Der Hamburger Physiker und Philosophie-Professor Carl Friedrich von Weizsäcker, sonst wegen seiner Kunst gemeinfaßlicher Wissenschaftsdarstellung gerühmt, mußte diesmal passen: Onsagers Arbeiten seien nur in abstrakter Formelsprache darzustellen. Er verwies an Professor Josef Meixner Technische Hochschule Aachen; der verstehe "viel davon" - allerdings: Er werde "es wohl auch nicht allgemeinverständlich erklären" können, meinte Weizsäcker. In der Tat, auch Meixner konnte nur von einem "Prinzip des detaillierten Gleichgewichts" sprechen, oder von einer "Beziehung zwischen Thermodiffusion und Diffusionsthermoeffekt".

Immerhin versuchte der "Spiegel" sich nach solchen verstörten, einleitenden Worten dann doch noch an einer - vielleicht ansatzweise sogar brauchbaren - Erläuterung (2):

Daß Energie (beispielsweise die Bewegungs-Energie stürzender Wassermassen) nicht verlorengehe, sondern sich allenfalls in andere Formen der Energie (im Kraftwerk beispielsweise in elektrische Energie) verwandelt, hatte der Schiffsarzt Robert Mayer 1842 als ein Grundgesetz der Natur erkannt. Diesen sogenannten Ersten Hauptsatz der Wärmelehre ergänzten die Wissenschaftler hernach immer weiter. Aber alle Berechnungen, die sie über Vorgänge bei der Umwandlung verschiedener Energieformen anstellen konnten, blieben vergleichsweise wirklichkeitsfern: Sie bezogen sich auf Systeme, die in einem Gleichgewichtszustand verharren. Bei schnell ablaufenden Prozessen der Energieveränderung, wie sie in der Natur vorkommen - etwa bei einem Feuer oder bei einer Explosion -, ließen sich allenfalls der Anfangs- und der Endzustand berechnen. Onsagers wissenschaftliche Tat ist es, auch für den Übergang von einem Gleichgewichtszustand in einen anderen mathematische Formeln entwickelt zu haben, "die sich in der Praxis gut bewährt haben" (Weizsäcker).  Onsager hatte diese Formeln ursprünglich nur für chemische Prozesse aufgestellt. Aber es zeigte sich, daß sie vielfältig anwendbar waren, so in der Halbleiter-Technik, in der Biologie - und schließlich auch, als US-Wissenschaftler ein Verfahren suchten, die Atombombe zu bauen.

Und in der Tat waren es ja auch "schnell ablaufende Prozesse der Energieveränderung", für die Manfred Eigen ein Jahr vor Lars Onsager den Nobelpreis erhalten hatte und bei diesem Anlaß in seiner Rede gesagt hatte, daß er sich "schämen" würde, den Nobelpreis vor Lars Onsager zu erhalten (siehe unten)(12). Auch das Nobelpreis-Komitee hatte erst noch auf die Leistungen Onsagers hingewiesen werden müssen, so sehr blühten sie auch damals schon "im Verborgenen".

In der Wochenzeitung "Die Zeit" erschien 1968 ebenfalls ein Artikel zur Verleihung des Nobelpreises an Lars Onsager. Der Artikel selbst verbirgt sich hinter einer Bezahlschranke. Aber schon der Titel sagt viel aus (3):

"Formeln für die Chemie von morgen - Lars Onsager entwickelte eine Mathematik für viele Vorgänge in der Natur."

Josef Meixner in Aachen - Ein "deutsche Onsager"?

Abb. 2: J. Meixner (5)

Und wer war der im eben zitierten Text genannte Professor Josef Meixner (1908-1994) (Wiki)?

Als der bekannte belgische Chemiker Ilya Prigogine 1977 den Nobelpreis erhielt, gab es Gerüchte, daß an seiner Stelle auch Josef Meixner mit diesem hätte ausgezeichnet werden können (4):

Ein bedeutender Anteil der Forschungsarbeit von Meixner war mit der Thermodynamik irreversibler Prozesse befaßt. Er wird deshalb zu den Gründervätern dieses Forschungsgebietes gerechnet. Er wies darauf hin, daß Onsager's Symmetrie-Gesetze wichtige Konsequenzen hatten. Über viele derselben berichtete er in in einem berühmten Artikel zusammen mit Helmut G. Reik in der Encyclopedia of Physics III (Springer, 1959). Der Nobelpreis für Chemie wurde 1977 an Ilya Prigogine (1917-2003) verliehen (...), insbesondere für seine Arbeit über die Thermodynamik irreversibler Prozesse. Es wird erzählt, daß das Nobelpreiskomitee vier zusätzliche Stunden brauchte, um zu einer Entscheidung zu kommen. Und es gab Gerüchte, daß Meixner ebenfalls als Kandidat gehandelt wurde. Meixners erste grundlegende Arbeit datiert zurück auf das Jahr 1941, Prigogine's Arbeit begann 1947. Tatsächlich schreiben D. Bedeaux und I. Oppenheim in ihrem Nachruf auf Mazur: "Josef Meixner stellte 1941 und Ilya Prigogine unabhängig davon 1947 eine zusammenhänge phänomenologische Theorie irreversibler Prozesse auf, die Onsager's Reziprozitäts-Theorem beinhalteten und die explizite Berechnung für einige Systeme der sogenannten Entropie-Quellen-Stärke. Kurz danach stießen Mazur und de Groot zu dieser Gruppe der Gründungsväter hinzu des neuen Gebietes der Nichtgleichgewicht-Thermodynamik. Außerdem schreiben A. R. Vasconcellos et al.: "Vor über zwanzig Jahren gab J. Meixner in Arbeiten, die nicht die verdiente Verbreitung fanden, einige überzeugende Argumente um zu zeigen, daß es unwahrscheinlich ist, daß ein Nichtgleichgewicht ... [?] [weiteres hinter einer Bezahlschranke]". 1975 sprachen Prigogine und Meixner beide auf einer Akademie-Sitzung in Düsseldorf. 
Original: A major part of Meixner's research work concerned the thermodynamics of irreversible processes, and he is counted as one of the founding fathers of that field. He pointed out that Onsager's symmetry laws had important consequences, many of which he reported on in a famous article with Helmut G. Reik in Encyclopedia of Physics III (Springer, 1959). The Nobel Prize for Chemistry for the year 19777 was awarded to Ilya Prigogine (1917–2003) (...), especially for his work on the thermodynamics of irreversible processes. It was said the Prize Committee spent 4 overtime hours before reaching its decision, and there were rumors that Meixner was also a candidate. Meixner’s first basic paper in the matter dates back to 1941, Prigogine’s work started in 1947. In fact, D. Bedeaux and I. Oppenheim in their obituary notice on Mazur write: “Josef Meixner in 1941 and, independently, Ilya Prigogine in 1947 set up a consistent phenomenological theory of irreversible processes, incorporating both Onsager’s reciprocity theorem and the explicit calculation for some systems of the so-called entropy source strength. Shortly thereafter, Mazur and de Groot joined this group as founding fathers of the new field of nonequilibrium thermodynamics”. Furthermore, A. R. Vasconcellos et al. write: “J. Meixner, over twenty years ago in papers that did not obtain a deserved diffusion gave some convincing arguments to show that it is unlikely that a nonequilibrium ” (...) [?]. In 1975 both Prigogine and Meixner lectured at an Academy session in Düsseldorf.

Der Konstanzer Biophysiker Gerold Adam (1933-1996) (Wiki) studierte 1951 bis 1958 an der Technischen Hochschule Aachen. Unter diesen Umständen ist es keineswegs ausgeschlossen, daß er wichtige Anregungen (auch) durch Josef Meixner erhielt, zu den Leistungen von Lars Onsager aufzublicken und sich dem von Meixner und Onsager bearbeiteten Forschungsgebiet der Theorie irreversibler Prozesse zuzuwenden. Meixner übrigens war 1931 als Schüler des hoch geehrten Arnold Sommerfeld in München promoviert worden. Er hat während des Zweiten Weltkrieges an der Eismeerfront in Finnland Kriegsdienst geleistet. Von 1944 bis 1974 lehrte er Theoretische Physik an der Technischen Hochschule Aachen. 1942 hatte er - ebenso wie Onsager - wichtige frühe Arbeiten zur Thermodynamik irreversibler Prozesse veröffentlicht. 1962 wurde - vermutlich doch vor allem auf Betreiben von Josef Meixner - Onsager die Ehrendoktorwürde der Technischen Universität Aachen zuerkannt. Aus diesem Anlaß hielt Meixner eine Ansprache, die - als Onsager den Nobelpreis erhielt - auch in den "Physikalischen Blättern" veröffentlicht wurde. In dieser führte er unter anderem aus (6): 

Eine weitere hervorstechende Leistung Onsagers ist die Theorie des zwei-dimensionalen Ising-Modells  des  Ferromagnetismus.  Wir  sehen  hier  einen ganz neuen Aspekt  seiner wissenschaftlichen  Arbeit. (...) Beim Ising-Modell lag ein wohlformuliertes physikalisches Problem vor, und die Leistung Onsagers ist hier  als rein  mathematisch  anzusehen,  aber als solche ein hervorragendes Kunstwerk des Geistes. Ihre überragende Bedeutung liegt  in zwei Richtungen. Sie gab die exakte Lösung für eines der wichtigsten und schwierigsten Probleme der statistischen Mechanik, wenn auch nur an einem physikalisch gesehen einfachen Modell, und damit zum ersten Mal eine Beurteilungsmöglichkeit der für kompliziertere Fälle auch heute noch unentbehrlichen Näherungsverfahren. Sie stellte aber auch, neben der Einstein-Kondensation, den einzigen Fall dar, in dem es gelungen war, die statistische Theorie einer Phasenumwandlung mathematisch vollkommen explizit und streng zu behandeln.

Meixner hält außerdem fest (6):

Wir dürfen wohl annehmen, daß die theoretischen Vorlesungen (Onsagers) für den jungen Chemiker etwas schwierig sind, und so nimmt es uns nicht wunder, daß die Onsagersche Vorlesung über statistische Mechanik I und II von den Studenten (in den USA) als Norwegisch I und II bezeichnet wurde. (...) Onsager wird als ein brillanter Wissenschaftler mit einer ungeheuren Konzentrationskraft bezeichnet. Seine Erfolge sind wohl letzten Endes darin begründet, daß er nie mit halben Lösungen zufrieden war, daß er vielmehr sich stets bemühte, die physikalische Natur eines Vorgangs oder einer Eigenschaft in voller Klarheit zu erfassen, um dann sein Problem ungehindert durch alle Schwierigkeiten einer eleganten und vollständigen  Lösung zuzuführen.

"Eine der höchsten geistigen Leistungen"

Auf die Lebensleistung von Lars Onsager wurde auch einmal eingegangen in einer grundlegenden Aufsatzreihe benannt "Die Evolution aus der Sicht der Naturwissenschaft und der Philosophie". Hier sollte nämlich einleitend als grundlegenderer Gedankengang erläutert werden (7),

daß die Gültigkeit einer Einsicht nicht dadurch bestimmt ist, wie viele sie wirklich „verstehen“. (…) Der Nachvollzug der einzelnen Erkenntnisschritte durch andere Menschen (…) kann ein so schwieriger sein, daß er dann nur von wenigen erfolgreich begangen wird. Vor allem auch die physikalisch-theoretischen Wissenschaften bieten eine Fülle von Beispielen hierfür. Aus der Vielzahl sei hier nur noch ein weniger bekanntes Beispiel genannt, das aber für die folgenden Beiträge zu unserem Rahmenthema wesentlich ist. Im Jahre 1944 ist dem norwegischen Physiker Lars Onsager die „exakte Lösung für den feldfreien Sonderfall des zweidimensionalen Isingmodelles“ gelungen. Das „zweidimensionale Isingmodell“ stellt eine regelmäßige Anordnung von Elementarmagneten in einer Fläche dar, deren Verhalten ohne äußeres Magnetfeld von Onsager berechnet werden konnte. Die Onsager'sche Theorie stellt eine der höchsten geistigen Leistungen in den Naturwissenschaften dar. Wichtige Ergebnisse dieser Berechnungen konnten erst Jahre später von anderen Wissenschaftlern nachgerechnet werden. Wesentliche Verbesserungen dieser Lösung, wie etwa ihre Erweiterung auf die Situation mit Magnetfeld oder gar auf den dreidimensionalen Fall (räumlich-kristalline Anordnung der Elementarmagnete) sind bis heute noch nicht gelungen. Die außerordentlichen Schwierigkeiten bei der Beschreibung des Isingmodelles rühren von der ungeheuren Vielzahl der möglichen Wechselwirkungen zwischen je zweien der (sehr vielen) Elementarmagnetchen her. Die Betrachtung des gemeinsamen („kooperativen“) Verhaltens von winzigen Magneten erscheint zwar auf den ersten Blick nicht sonderlich interessant; doch ist das Isingmodell der wohl übersichtlichste Fall der Beschreibung einer Ansammlung von vielen gleichartigen, miteinander wechselwirkenden Untereinheiten. Seine mathematische Formulierung ist daher fast ohne Abänderung auf die Beschreibung einer Fülle von anderen, auf den ersten Blick grundverschiedener Anordnungen von miteinander wechselwirkenden Untereinheiten übertragbar, wie sie zum Beispiel die Moleküle bei den Vorgängen der Entmischung von Lösungen oder des Schmelzens/Kristallisierens, die Molekülsorten bei der präbiotischen Evolution oder die Menschen bei der Meinungsbildung in einer Bevölkerung darstellen.

Daß die Meinungsbildung in einer Bevölkerung den gleichen Gesetzen folgen könnte wie sie sonst in der Natur in "komplexen Systemen" vorkommen, wird etwa recht anschaulich behandelt in dem Buch "Erfolgsgeheimnisse der Natur" des Stuttgarter Physikers Hermann Haken. Dieses Buch stellt ebenfalls eine allgemeinverständliche Hinführung zum Thema der Theorie komplexer Systeme dar, für die Lars Onsager die wichtigsten theoretischen Grundlagen gelegt hatte.

Die meistzitierte Arbeit von Lars Onsager ist tatsächlich diejenige über das Ising-Modell von 1944 (8).

Wenn man einem Wissenschaftler wie Onsager also nur schwer über die Inhalte seiner Forschungen näher kommen kann, so vielleicht doch ein wenig mehr über einige Angaben zu seinem sonstigen Leben. Onsager ist in Oslo aufgewachsen, hat in er Schule eine Klasse übersprungen und im Jahr 1920 ein Chemie-Studium an der Universität Trondheim aufgenommen (14):

Schon während seines Studiums zeigte er seine Unabhängigkeit als er sich auf eigene Faust ein breites und tiefgehendes Wissen auf dem Gebiet der Mathematik aneignete und während er sich mit dem jüngst (1923) veröffentlichten Durchbruch in der Elektrolyt-Theorie von Pieter Debye und seinem Assistenten Hückel beschäftigte. Onsager fand einen Fehler in jenem Teil der Theorie, der die Leitfähigkeit des Elektrolyts betraf. Nach seinem Studienabschluß als Chemie-Ingenieur der Universität Trondheim reiste er 1925 nach Zürich, um Debye zu besuchen. Der unbekannte 22-Jährige aus Norwegen marschierte in das Arbeitszimmer des berühmten Wissenschaftlers mit den Worten: "Professor Debye, Ihre Theorie der Elektrolyte enthält einen Fehler!" Der berühmte Debye war den dreisten jungen Mann nicht hinaus. Im Gegenteil, in der nachfolgenden Diskussion war er so beeindruckt von dem jungen Norweger, daß er ihm eine Stelle als sein Assistent für das nachfolgende Jahr anbot. (...) Seine Verbesserungen der Theorie von Debye und Hückel über die Leitfähigkeit der Elektrolyte verschaffte ihm bald einen Namen unter den Elektrolyt-Experten.
Already during his studies, he showed his independence by acquiring on his own a broad and profound knowledge of mathematics, and by familiarizing himself with the recently published (1923) breakthrough in electrolyte theory by Pieter Debye and his assistant Hückel. (An electrolyte is a solution of ionized molecules, and can conductelectricity.) Onsager found an error in that part of the theory which concerns the conductivity of the electrolyte. After his graduation as a chemical engineer from NTH he travelled, in 1925, to Zürich to visit Debye. The unknown 22-year old from Norway walks into the famous scientist’s office with the announcement: ‘‘Professor Debye, your theory of electrolytes is incorrect!’’ But the famous Debye does not throw out the impudent youngster. On the contrary, in the subsequent discussion, he is so impressed by the young Norwegian that he offers him a job as his assistant for following year. (...) His improvements of Debye and Hückel’s theory of electrolytic conduction quickly earned him a name among the experts on electrolytes.

1932 reichte er seine Doktorarbeit an der Universität Trondheim ein, die nur 37 Seiten umfaßte, die er aber dennoch als die "beste seiner bisherigen Arbeiten" charakterisierte. Infolge anderer drängender Arbeiten hätte er nicht die Muse, seine Doktorarbeit ausführlicher zu schreiben. Der Universität war das dennoch zu wenig. Onsager soll gesagt haben (14):

Allerhand Leute gibt es, darunter sicherlich viele talentierte, die sich mit Methoden bewaffnen und dann auf die Jagd nach behandelbaren ("vulnerable") Problemen gehen. Ein Problem aber gemäß seiner eigenen Bedingungen zu akzeptieren und sich seine eigenen Waffen schmieden - das erst ist wirklich erstklassig!
There are a lot of folks, some quite talented, who arm themselves with methods and then go hunting for vulnerable problems; but to accept a problem on its own terms, and then forge your own weapons - now that’s real class!

1933 lernte Onsager in Österreich seine nachmalige Ehefrau Gretl kennen. Darüber wird berichtet (9):

Onsager blieb an der Brown-Universität bis 1933. (...) Im Sommer jenes Jahres weilte Lars in Europa und besuchte H. Falkenhagen, den österreichischen Elektrochemiker. Falkenhagen fühlte sich aber unpäßlich und bat deshalb seine Stiefschwester Gretl (Margarethe Arledter), sich um Lars zu kümmern. Gretl sah ihn die Treppen herauf kommen - einen sehr gut aussehenden jungen Mann, von dem ihr Bruder ihr gesagt hatte, er wäre "seiner Zeit weit voraus". Dann gingen sie zum Essen aus. Wie immer war Lars aber von sehr zurückhaltendem Wesen. Nach dem Essen schlief er auf der Terrasse. Dann wachte er auf und fragte sie: "Sind Sie verliebt?" Acht Tage später verlobten sie sich - Margarethe war 21 und Lars 29. Am 7. September 1933 heirateten sie.
Original: Onsager remained at Brown University until 1933, when the economic depression made it necessary for his appointment to be discontinued; it would have been impossible for the chemistry department to convince the university that his services as a teacher were indispensable. In the summer of that year Lars was in Europe, and went to visit H. Falkenhagen, the Austrian electrochemist. Falkenhagen was unwell at the time and asked his sister Gretl (Margarethe Arledter) to entertain Lars. Gretl saw him coming up the stairs—a very handsome young man who her brother had told her was ‘well ahead of his times’. They went out to dinner, but Lars was his usual reticent self. After dinner he fell asleep on the patio, and then woke up and asked: ‘Are you romantically attached ?’ They became engaged 8 days later - Margarethe at 21 and Lars at 29 - and got married on 7 September 1933.

Aus der Ehe sollten vier Kinder hervor gehen. Onsager erhielt 1934 eine Professur. Da er aber nie promoviert hatte, mußte er 1935 nachträglich eine Doktorarbeit einreichen. Aber weder die Chemiker, noch die Physiker fühlten sich ihrer komplizierten Mathematik gewachsen. Sie gaben sie deshalb an die Mathematiker weiter. Dort war man dann hoch erfreut über Onsager's Arbeit und befürwortete die Promotion.

"Die Onsager'sche Lösung hätte ich nicht heraus bekommen"

Das Ehepaar Onsager kaufte sich in den USA einen Bauernhof, auf dem Lars mit großer Begeisterung Gemüse anbaute und das Landleben genoß. Onsager schwamm gerne. Und bis an sein Lebensende unternahm er Skitouren (9).

Da Gretl und Lars in den USA "Ausländer" waren, wurde Onsager nicht für jene Forschungen herangezogen, die in Zusammenhang mit der Kriegsführung standen. Für Onsager hatte das wertvolle Folgen (9):

Er fand Zeit, um so angestrengt oder noch angestrengter zu denken als er es jemals zuvor getan hatte, um ein Schlüsselproblem in der Physik zu klären, von dem andere mit guten Gründen angenommen hatten, daß es jenseits der Möglichkeiten der menschlichen Intelligenz liegen würde. (...) Sie nahm die Welt der Theoretischen Physiker im Sturm. (...) So wie es Pippard im Jahr 1961 beschrieb: "Onsager's exakte Behandlung, die eine Sensation hervorrief, als sie erschien, zeigte, daß die spezifische Wärme tatsächlich am Übergangspunkt zur Unendlichkeit anwuchs, ein Phänomen, das jene sehr grundlegend verwirrte, die sich sicher waren, daß Schwankungen immer ausgeglichen würden durch die Schroffheit, die durch die Annäherungen in der Analyse geschaffen wurden. (....) Diese Arbeit gab dem Studium kooperativer Phänomene einen ganz neuen Schwung ... und es ist sicherlich die wichtigste Einzelleistung in diesem wichtigen Forschungsfeld."
Original: He was able to find the time to think as hard, or harder, than ever before and to solve a key problem in physics others might well have believed to lie beyond the reach of human intelligence. (...) It took the world of theoretical physics by storm. (...) As Pippard wrote, in 1961: "Onsager's exact treatment, which created a sensation when it appeared, showed that the specific heat in fact rose to infinity at the transition point, a phenomenon which profoundly disturbed those who were sure that fluctuations always smoothed over the asperities which were created by approximations in the analysis. This work gave a new impetus to the study of cooperative phenomena, ... and it is certainly the most important single achievement in this important field."

Unter Physikern erzählt man sich Anekdoten wie diese (9): 

Lev D. Landau (...) sagte zu V. L. Pokrovskii, daß während die Arbeiten anderer Theoretiker seiner Generation für ihn keine wirkliche Herausforderung darstellen würden, er sich nicht vorstellen könne, daß er selbst die Onsager'sche Lösung des Ising-Modell's herausbekommen hätte.
Original: Lev D. Landau, whose own general phenomenological theory of phase transitions was fatally undermined by Onsager's results, told V. L. Pokrovskii that while the work of other theorists of his generation presented no real challenges to him, he could not envisage himself accomplishing Onsager's solution of the Ising model.

Der hier genannte sowjetische Theoretische Physiker Lev Landau (1908-1968) (Wiki) hatte 1929 bei Werner Heisenberg in Leipzig und bei anderen Physikern in Deutschland studiert (Wiki):

Er teilte Physiker in eine logarithmische Skala von 0 bis 5 ein (0 war die höchste Stufe), stufte Einstein bei 0,5 ein, die Väter der Quantenmechanik (Schrödinger, Bohr, Heisenberg, Bose, Dirac, Wigner) bei 1, sich selbst anfangs bei 2,5, und relativ spät in seiner Karriere bei 2.

Die Theoretischen Physiker und Chemiker der damaligen Generation erzählten sich noch viele andere, sie außerordentlich beeindruckenden Erlebnisse mit Lars Onsager. So etwa auch der bekannte amerikanische Physiker Richard Feynman (9, S. 458f). Sie berichteten auch darüber, daß Onsager das Ergebnis seiner Forschungen nicht selten intuitiv vorausahnte und mit seinen mathematischen Berechnungen diese Intuition dann nur noch rational nachvollzogen hat, also quasi "ratifiziert" hat (9).

Erst vor drei Jahren, 2018, schrieb der indischer Chemiker Biman Bagchi über Lars Onsager (10):

Über ihn wird oft gesagt, auch heute noch, daß er der "beste Mathematiker" war, den es in der Theoretischen Physik und in der Theoretischen Chemie jemals gegeben habe.
Original: He is often cited, even today, as the “best calculator” that theoretical physics and theoretical chemistry has ever seen.
Über Julian H. Gibbs, der zusammen mit dem nachmaligen Konstanzer Biophysiker Gerold Adam (1933-1996) (Wiki) eine bis heute oft zitierte Arbeit über das physikalische (ebenfalls kooperative irreversible) Phänomen die Glasbildung vorlegte ("Adam-Gibbs"), berichtet Biman Bagchi in diesem Zusammenhang (10):
Mein eigener Doktorvater an der Brown-Universität, Julian H. Gibbs, verbrachte ein gemeinsames Jahr mit Onsager in Cambridge. Gibbs war dort als Guggenheim Fellow tätig. Er erzählte mir, daß Onsager sich gerne viel mit ihm zu unterhalten habe, weil sie beide die einzigen Amerikaner in der Theoretischen Physikalischen Chemie in Cambridge waren. Gibbs erzählte, daß Onsager wissenschaftlich unglaublich und ein ebenso fröhlicher wie warmherziger Mensch gewesen sei. Gibbs fand Onsagers Ansatz auf so hoher Verständnisebene angesiedelt, daß er Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten.
My own thesis adviser at Brown University, Julian H. Gibbs, overlapped about a year with Onsager at Cambridge where Gibbs was a Guggenheim Fellow. Gibbs told me that Onsager used to talk a lot with him because they two were the only Americans in theoretical physical chemistry at Cambridge. Gibbs told me that Onsager was incredibly smart with science, and was quite a jolly and warm guy. Gibbs found Onsager’s approach so high level that he had to struggle to keep up with him. 

Und Biman Bagchi schreibt bewundernd weiter (10): 

In diesem Zusammenhang muß ich den Leser daran erinnern, daß Julian Gibbs selbst außergewöhnlich war. Neben anderem sind ja seine Theorien über die Glasbildung (Adam-Gibbs, Gibbs-DiMarzio) sehr bekannt.
Original: I need to remind the reader that Julian Gibbs himself was outstanding, and his theories of glass transition (Adam-Gibbs, Gibbs–DiMarzio) among others, are well-known.

Die hier erwähnte "Adam-Gibbs"-Arbeit wurde dementsprechend 1982 mit dem "Citation Award" ausgezeichnet (11). Der Konstanzer Biophysiker Gerold Adam, mit dem zusammen Julian H. Gibbs eine der beiden eben genannten "außergewöhnlichen" Arbeiten vorlegte, erforschte später - ebenfalls als Theoretischer Physiker - Phasenübergänge bei der Nervenerregung. Vielleicht hatten diese Forschungen Onsager's Interesse geweckt, und vielleicht war Onsager in den 1970er Jahren in diesem Zusammenhang zu Besuch nach Konstanz gekommen.

Außer mit dem genannten Citation Award ist Gerold Adam unseres Wissens niemals mit einem Wissenschaftspreis ausgezeichnet worden, während Julian Gibbs und Edmund A. DiMarzio 1967 in Chicago gemeinsam den Preis für Hochpolymer-Physik der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft erhalten haben. Der Autor dieser Zeilen hat DiMarzio vor einigen Jahren (2014) angeschrieben und erfahren, daß DiMario es bedauert, Gerold Adam niemals persönlich begegnet zu sein.

Manfred Eigen - Sein Hinweis an das Nobelpreisträgerkomitee 

Der Chemiker Manfred Eigen hatte 1967, ein Jahr vor Lars Onsager den Nobelpreis erhalten. Eigen berichtet darüber (12):

In meiner Nobelrede sagte ich den Satz: I am ashamed to receive this price before Lars Onsager. Lars Onsager war einer der großen theoretischen Chemiker unserer Zeit. Er hatte eine allgemeine Theorie irreversibler Vorgänge nahe am thermodynamischen Gleichgewicht erstellt. Die chemische Relaxationsspektrometrie, die experimentelle Methode, für die ich den Preis erhielt, basiert auf Gleichungen, die wir aus Onsagers linearen Ansätzen entwickeln konnten. Onsager, der ungefähr eine Generation älter war als ich, war klarer Kandidat für einen Nobelpreis, jedoch sein Werk war reine Theorie. Nach meinem Vortrag kam Arne Tiselius, ebenfalls ein Chemie Nobel-Laureat und zu jener Zeit Präsident der Nobel Foundation, zu mir und sagte: If you mean what you said about Onsager, you have to write me a letter in which you state clearly that Onsager’s theory was important for the development of your experimental methods.Ich habe diesen Brief geschrieben und Onsager bekam im darauf folgenden Jahr den Nobelpreis für Chemie.

Dieser Bericht ist noch einmal ein Hinweis darauf, daß das Bewußtsein von der wissenschaftliche Leistung von Lars Onsager auch innerhalb der Wissenschaft selbst nur bei wenigen vorhanden war. Auf diese Weise kann es immer wieder dazu kommen, daß bedeutende Wissenschaftler bei der Verleihung des Nobelpreises "vergessen" werden. 

Übrigens kann gegen den Mythos, daß ein Theoretiker wie Onsager keinerlei praktische Fähigkeiten aufweisen würde, vieles angeführt werden. Es wird berichtet, daß Onsager ein begeisterter Gärtner war, daß er alle Reparaturen zu Hause selbst besorgte. Und von einer Physiker-Rundreise durch Japan anläßlich einer wissenschaftlichen Konferenz daselbst nach dem Zweiten Weltkrieg wird berichtet, daß der Reisebus von der Straße in einen Graben abgerutscht sei (14):

Die Fahrer, die örtlichen Bauern und die Physiker standen herum und brabbelten in allerhand Sprachen bis Onsager, einen Seufzer ausstoßend kraftvoll die Verantwortung übernahm. Er organisierte eine Arbeitsgruppe von örtlichen Bauern, die eine Behelfsbrücke über den Graben legen sollten, arrangierte ein System von Hebestangen und mit den Muskeln von zwanzig bis dreißig Physikern und Onsagers Ansage und Aufmunterung brachten wir den Bus - zu unserem Erstaunen - wieder zurück auf die Straße.
Drivers, local farmers, and physicists stood around jabbering in several languages until Onsager, with a sigh, firmly took charge. He organised a work crew of local farmers to dismantle a log bridge over the ditch, arranged a system of levers, and with the muscle of 20 or 30 physicists and Onsagers’s direction and encouragement we, to our astonishment, put the bus back on the road.

 

Weitere Erinnerungen zum Onsager-Besuch in Konstanz  

Ergänzung 15.2.2021: Nach Veröffentlichung dieses Beitrages erhalten wir noch ergänzende Angaben zu dem Onsager-Besuch in Konstanz im Jahr 1975 von Seiten der Ehefrau des damals einladenden Hochschullehrers. Auslöser, so schreibt sie, könnte ein wissenschaftlicher Aufsatz von 1971 gewesen sein (13), der - wie auf Google Scholar festgestellt werden kann - auffallender Weise bis heute nie zitiert worden ist, der also ansonsten heute offenbar nie die Aufmerksamkeit in der Wissenschaft auf sich gelenkt hat. Es wird jedenfalls geschrieben: 

Es kann gut sein, daß Onsager selbst die Verbindung zu Gerold gesucht hat. Gerold hat auch eine Arbeit über das zweidimensionale Isingmodell veröffentlicht (1971: "Kinetik des zweidimensionalen Isingmodells in der Braggs-Williams-Näherung: Kleine Auslenkungen aus dem Gleichgewicht"). Onsager hielt einen Vortrag an der Uni, den vermutlich Gerold angeregt hat. Den Titel kenne ich nicht. Er wäre in denkbar schlechtem Englisch gewesen, meinte Gerold. 

Nach dem Vortrag saß er in Gerolds Arbeitszimmer in der Uni und schwieg und Gerold machte ihm einen Tee und schwieg auch.

Wir hatten ihn auch bei uns zuhause zu Besuch. Er freute sich über die 4 kleinen weißen Stiefelpaare (der Kinder) vor unserer Haustüre. An ihn selbst kann ich mich kaum erinnern. Er muß schon 70 Jahre alt gewesen sein.

Im Gespräch ging es auch über Steine mit Keilschriften, die in Mittelamerika gefunden worden waren. Das bedeutete, daß Europäer schon dort gewesen sind. Er: man weiß es, aber es wird nicht darüber gesprochen, d.h. es wird verschwiegen. Den Wortlaut weiß ich nicht mehr genau.

Seine Frau stamme aus "Marburg an der Drau“, ich wußte, daß dies das heutige Maribor ist, unsere anderen Gäste, ein junges Wissenschaftlerpaar, jedoch nicht. 

Er, ein Weinkenner, wußte auch, wie ein bestimmter Kärntner Wein 1936 (?) schmeckte. Auf die Frage Gerolds, was er von unseren französischen Rotweinen von 1933 und 1943 hielte: wenn wir je dran denken wollten, sie zu trinken, sollten wir nicht mehr allzu lange warten.

Es war in meiner Erinnerung ein sehr netter Abend gewesen.

Eingeleitet worden war die Zuschrift mit den Worten:

Deine Anfrage hat alte Erinnerungen wieder aufleben lassen. 1974 - Dez. 1976 wohnten wir in einem sehr kleinen Häuschen zur Miete in Konstanz/Wollmatingen, Mitte Dez. 76 zogen wir in unser eigenes Haus.

____________ 

  1. Onsager, Lars: Zur Frage des Ursprungs des Lebens, Nobelpreisträger-Tagung in Lindau 1975, https://www.mediatheque.lindau-nobel.org/videos/31467/once-upon-a-time-questions-on-the-origin-of-life-german-presentation-1975/meeting-1975
  2. Raunen auf dem Gang. In: Der Spiegel, 45/1968, 04.11.1968, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45935170.html
  3. Hopmann, Rudolf: Formeln für die Chemie von morgen - Lars Onsager entwickelte eine Mathematik für viele Vorgänge in der Natur, ZEIT Nr. 45/1968, 8. November 1968, https://www.zeit.de/1968/45/formeln-fuer-die-chemie-von-morgen
  4. Paul L.Butzera, Tom H.Koornwinderb: Josef Meixner: His life and his orthogonal polynomials. In: Indagationes Mathematicae, Volume 30, Issue 1, January 2019, Pages 250-264, https://doi.org/10.1016/j.indag.2018.09.009.
  5. F. Schlögl: Persönliches: Josef Meixner. In: Physik Journal. 50, 1994, S. 584–584, doi:10.1002/phbl.19940500619.
  6. Meixner, Josef: Chemie‐Nobelpreis 1968 für Lars Onsager. (Laudatio vom 23. Juli 1962 anläßlich der Ehrenpromotion von Prof. Onsager an der Rheinisch‐Westfälischen Technischen Hochschule Aachen), In: Physikalische Blätter, Februar 1969, https://doi.org/10.1002/phbl.19690250204.
  7. Leupold, Hermin: Wie erweist sich die Richtigkeit intuitiver Einsichten? Verifikationsprobleme bei wissenschaftlichen und philosophischen Problemen. In: „Die Deutsche Volkshochschule, Folge 61, Mai 1989, S. 1-13 [Zweiter Beitrag der Aufsatzreihe zum Rahmenthema: Die Evolution aus der Sicht der Naturwissenschaft und der Philosophie] 
  8. Onsager, Lars: Crystal Statistics. I. A Two-Dimensional Model with an Order-Disorder Transition. In: Phys. Rev. 65, 117 – Published 1 February 1944, https://journals.aps.org/pr/abstract/10.1103/PhysRev.65.117
  9. Longuet-Higgins, Hugh Christopher; Fisher, Michael Ellis: Lars Onsager, 27 November 1903 - 5 October 1976 - Obituary. Biographical memoirs. Published:01 November 1978, https://doi.org/10.1098/rsbm.1978.0014
  10. Bagchi, Biman: Lars Onsager (1903–1976). In: Resonance, Oktober 2018
  11. Adam, Gerold; Gibbs, Julian H.: On the Temperature Dependence of Cooperative Relaxation Properties in Glass‐Forming Liquids. In: J. Chem. Phys. 43, 139 (1965)
  12. Eigen, Manfred: Anmerkungen eines Preisträgers. In: Das Göttinger Nobelpreiswunder - 100 Jahre Nobelpreis - Vortragsband, hrsg. von Elmar Mittler und Fritz Paul, Göttingen 2004, S. 53ff
  13. Adam, Gerold: Kinetik des zweidimensionalen Ising-Modelles in der Bragg-Williams-Näherung: kleine Auslenkungen aus dem Gleichgewicht. In: Zeitschrift für Physikalische Chemie, Bd. 74, S. 78-80 (1971), doi:10.1524/zpch.1971.74.1_2.078, https://www.degruyter.com/document/doi/10.1524/zpch.1971.74.1_2.078/html
  14. Hauge, Eivind H.: Lars Onsager - The NTH student who became one of the greatest scientists of the 20th century. In: Energy 30 (2005), S. 787-793 (Academia)  

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