Dienstag, 23. März 2021

Das "sinnvolle Maß der Ursächlichkeit" in diesem Universum

Das schrittweise genauere Verständnis des Verhältnisses von Chaos und Ordnung in der Natur während des 20. Jahrhunderts 

Niemals war nur Chaos

.... Oder bleibt etwa doch "alles dem Spiel des Zufalls überlassen"?

Von philosophischer Seite aus sind einmal im Jahr 1923 aus intuitiver Erkenntnis heraus das Entstehen des Universums und grundlegende Prinzipien dabei in einer umfassenden "Schau", sowie mit Bezug zum damaligen naturwissenschaftlichen Kenntnisstand umrissen worden (1). "Gott" wurde in dieser Philosophie als jenseits von Raum, Zeit und Materie begriffen und damit auch als "jenseits" der Anschauungsformen der menschlichen Vernunft, hingegen als - sozusagen "pantheistisch" - erlebbar dem Icherleben der menschlichen Seele. Zu damaliger Zeit wurde manchmal noch der "Äther" als Vorstufe der Materie begriffen. Heute wäre an seine Stelle der Begriff "Quantenvakuum" zu setzen. Es wurde da in diesem Sinne festgehalten (1, S. 9f; bzw. S. 71):

Der vollkommene Gott ist entweder ohne Erscheinung, oder aber er tritt in Erscheinung, dann ist aber auch vollendete Gesetzmäßigkeit das Kennzeichen seiner Vollkommenheit. Ja, diese vollendete Gesetzmäßigkeit aller Gotterscheinung ist in den ersten Stufen der Schöpfung am allerklarsten kundgetan und muß in der Vorstufe der Erscheinung, im Äther vollkommen wohnen. Setzen uns doch auch heute noch die Gase, die älteste Zustandsform der Stoffe, durch ihre monumentalen Gesetze und ihre restlose Einordnung so in Erstaunen. Die Druck- und Raumgesetze der Gase, die Gesetze ihrer Verbindung können uns beredet von der Gesetzmäßigkeit der Urerscheinung zeugen und weihen sie mit dem Adel vollkommener Willenserfüllung. Niemals also war Chaos, so wahr Gott die Vollkommenheit ist.

Natürlich repräsentierten auch schon die damals bekannten, hier erwähnten "monumentalen Gesetze" der Gase eine Kombination, ein Zusammenspiel von Naturgesetzen und Zufall, ein Zusammenspiel von Gesetzmäßigkeit und Chaos. Insofern muß gesagt werden, daß der Begriff "Chaos" hier so zu lesen ist als eine chaotische Zustandsform, die durch keinerlei Gesetzmäßigkeit gebändigt wäre. In diesem Sinne ist der Satz zu verstehen "Niemals also war Chaos", sprich, Chaos für sich allein - und nichts anderes als Chaos. Chaos und nur Chaos, ohne Begrenzung durch die Naturgesetze.

Daß der Begriff Chaos in diesem Zusammenhang genau so und nicht anders zu lesen ist, geht also schon deutlich genug aus dem Gesamtzusammenhang des Zitates hervor, insbesondere durch den Bezug zu den Druck- und Raumgesetzen der Gase.

Abb. 1: Werner Heisenberg, um 1930

Dennoch wird deutlich, daß der Autor im Jahr 1923 mit der schon damals gut ausgearbeiteten Wärmelehre der Gase sich noch nicht sehr viel beschäftigt hatte. Sonst hätte er präziser formuliert. Um Mißverständnisse aus heutiger Sicht auszuschließen, wäre also dieser letzte Satz des Zitates sinnvoller Weise umzuformulieren etwa in den Wortlaut:

Niemals also war - nur allein isoliert für sich - Chaos, so wahr Gott die Vollkommenheit ist.

Denn das Vorherrschen des Zufalls, ohne daß dieser von Naturgesetzten gebändigt und gesteuert würde, erst dies wäre ja jenes womöglich "vollendete Chaos", von dem aus philosophischer Sicht hier hatte die Rede sein sollen. Und so ist es dann von derselben Autorin im Jahr 1941 auch noch einmal klarer heraus gestellt worden (3, S. 167):

"Niemals war Chaos" vor dieser Schöpfung, wie Menschenwahn wähnte, von der Vorstufe der ersten Erscheinung an, in die Gott einging, herrschte Wirkungordnung. Wir haben erwiesen, daß diese Wirkungordnung, diese Kausalität nicht um ihrer selbst willen vorhanden ist, sondern nur um das Schöpfungziel zu erreichen und zu erhalten daß sie um eines göttlichen hehren Sinnes willen Maß innehält. Aber wir haben auch der Erwartung Ausdruck gegeben, daß eine vollkommen begrenzte Gesetzlosigkeit, Chaos, in dem Mikrokosmos angetroffen werden wird, (...) und daß dieses streng begrenzte Chaos niemals die Zuverlässigkeit der Naturgesetze im Makrokosmos beeinträchtigen wird.  

Diese Klarstellung ist natürlich sehr bedeutend. Denn sonst könnte das erstgenannte Zitat doch auch mancherlei Mißverständnisse mit sich bringen. Auch von philosophischer Seite war also schon 1923 und 1941 der Zusammenhang benannt worden: Chaos und Gesetzmäßigkeit treten - als Grundprinzipien ein und desselben Grundzusammenhanges, nämlich des Seins schlechthin - gemeinsam und niemals getrennt voneinander auf. Es gibt kein Chaos ohne Naturgesetze. Und es gibt keine Naturgesetze ohne Chaos. Das ist der Grundgedanke, der hier formuliert wurde.

In diesem Beitrag sollen die hier benannten Zusammenhänge aus der Sicht der Theorie komplexer Systeme - andere Benennungen lauten: Theorie dissipativer Systeme, Chaostheorie, Synergetik (alles Begriffe der Physik für denselben Themenbereich, wie er sich in den 1970er Jahren heraus schälte), etwas ausführlicher umsonnen werden.

Die hier erörterten Zusammenhänge sind nämlich erst seit den 1970er Jahren von Seiten der Theoretischen Physik besser verstanden worden und einer Klärung näher gebracht worden. Dieses bessere Verständnis brachte aber noch weitaus mehr mit sich: Seither ist der Wissenschaft bewußt geworden, daß Chaos nicht nur als ein zerstörerisches Prinzip wirksam ist, sondern auch als Voraussetzung der Entstehung von Komplexität. Über diesen Zusammenhang sind unzählige wissenschaftliche Bücher und Aufsätze erschienen, nämlich über das Zusammenspiel zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Zufälligkeit und Gesetzmäßigkeit, das allem Sein in diesem Universum zugrunde liegt. Erst damit ist dem Begriff Chaos als größtmögliche Unordnung eine ganz bestimmte, fest umrissene Bedeutung und Rolle in diesem Universum zugesprochen worden.

Es ist also erkannt worden, daß - philosophisch gesprochen - die Vollkommenheit dieses Universums in genau diesem unglaublich aufregenden, erregenden Zusammenspiel von Chaos und Ordnung besteht. 

Als Nebengedanke sei erwähnt: Um die Verwendung und Bedeutung des Begriffes "Chaos" im Jahr 1923 zu verstehen, ist wohl auch zusätzlich noch zu bedenken, daß im Jahr 1923 in dem Begriff des Chaos, wenn man in Deutschland lebte, noch viel mehr mitschwang, als was wir heute mit diesem Begriff verbinden. Man empfand die politischen, gesellschaftlichen und sozialen Umwälzungen, die der Ersten Weltkrieg mit sich gebracht hatte - gerade auch in Deutschland, aber mehr noch in der Sowjetunion - als "Chaos", als Zustand vollkommener Unordnung, als Zustand vollkommener Gesetzlosigkeit, als Elend unermeßlichen Ausmaßes. Es ist nachvollziehbar, daß es in solchen Zeitumständen schwer fiel, dem Chaos - als Gegenspieler zur Gesetzmäßigkeit - eine gar zu große Rolle für alles Weltgeschehen zuzusprechen. Von der Gelassenheit und Kühnheit eines Friedrich Nietzsche hatte man sich aufgrund solcher Zeitumstände weit entfernt. Von Nietzsche war ja der schöne philosophische Satz bekannt:

"Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können."

Und dieser Satz ist durch die Physik der Theorie komplexer Systeme auch glänzend bestätigt worden. Mehr noch: Nietzsche hatte schon allein schon bloß vom heutigen physikalischen Standpunkt der Stern-Physik her völlig recht: Im Innern eines jeden Sternes lodert Chaos, zusammengehalten durch die Gesetze der Schwerkraft, in "Brand gesetzt" durch die frei gesetzten, vormals gefesselten Energien, die in jedem Atomkern dieses Universums schlummern. Soweit noch einmal der genannte Nebengedanke.

Daß ein Satz "Niemals also war Chaos, so wahr Gott die Vollkommenheit ist" - isoliert für sich genommen zitiert - der Sachlage, die in der physikalischen Erkenntniswelt gegeben ist, in keinem Fall gerecht wird, ist von philosophischer Seite also schon im Jahr 1941 klar gestellt worden (3). Nun wurde die Rolle des Chaos in der Physik - und zwar vor allem auch für das Ende und die Auflösung des Universums - deutlicher philosophisch erläutert und in Rechnung gestellt (3).

Es ist unglaublich aufregend zu sehen, wie man sich von philosophischer Seite aus dem Phänomen des Chaos in unserem Universum zu unterschiedlichen Zeiten angenähert hat. Zu einem runderen Abschluß dieser Auseinandersetzung konnte es erst - so wird ja gut aus der Rückschau deutlich - in den 1970er Jahren kommen. 

Abb. 2: Werner Heisenberg, um 1930 (Wiki)

Aber im Jahr 1941 spürt man schon viel von der zeitgleichen und kommenden Entwicklung in der Physik voraus, von einer Entwicklung, die nicht zuletzt mit dem Namen Lars Onsager verbunden gewesen ist (siehe BzWg2/2021).

Wie aufregend, wenn man mit dem Wissen vom Beginn des 21. Jahrhunderts her auf diese damalige Auseinandersetzung zurück blickt. Wie sehr doch ein philosophischer Satz wie der eingangs angeführte, auch wenn er ohne die genannte Ergänzung zu Irrtum verleitet, das Nachdenken befeuern kann. Und wie sehr die nachfolgenden physikalischen Erkenntnisse dann erst an "Frische" und Bedeutsamkeit gewinnen, betrachtet man sie aus dem Blickwinkel dieser "nur angedeuteten" philosophischen Mißverständlichkeit des Jahres 1923 heraus.

Werner Heisenberg über den Zufall 1941/42

Im gleichen Jahr 1941 schrieb auch der deutsche Atomphysiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg Gedanken über die Rolle des Zufalls in unserem Universum nieder (4, S. 93):

... In dem Bereich der Wirklichkeit, dessen Zusammenhänge durch die Quantentheorie formuliert werden, führen die Naturgesetze also nicht zu einer vollständigen Festlegung dessen, was in Raum und Zeit geschieht; das Geschehen ist vielmehr - innerhalb der durch die Zusammenhänge festgelegten Häufigkeiten - dem Spiel des Zufalls überlassen.

Er versucht dann, sich der Bedeutung der Rolle des Zufalls im Naturgeschehen noch einmal über den Vorgang der Kristallbildung anzunähern. Er sagt zwar, daß die Naturgesetze die Anordnung der Atome in Reih und Glied, die Symmetrien und damit die Struktur des Kristalls festlegen (4, S. 94f):

Aber die besondere äußere Form des einzelnen Kristalls bleibt nach den uns bekannten Gesetzen dem Spiel des Zufalls überlassen; selbst wenn genau die gleichen äußeren Bedingungen für die Bildung eines Kristalls wiederhergestellt werden könnten, so wäre doch die Form des gewachsenen Kristalls nicht immer die gleiche: Der in kalter Luft abgekühlte Wassertropfen erstarrt zum Schneekristall. Die Symmetrie des Kristalls wird, wenn keine äußeren Störungen auftreten, stets die des Sechsecks sein; aber die besondere Form des kleinen Kristallsterns wird durch kein Naturgesetz vorher bestimmt; innerhalb der durch die sechseckige Symmetrie, die Größe des Tropfens, die Art der Abkühlung usw. bestimmten Grenzen entwirft der Zufall die unendlich vielfachen Muster der Sternchen und Plättchen, die uns ebenso kunstvoll dünken wie die Bilderfolge eines Kaleidoskops.

Heisenberg fragt sich im Anschluß an diese Überlegungen, ob eine solche Art des Zufalls per se als etwas "Sinnloses" betrachtet werden müsse (da Goethe das in einem zuvor von ihm gebrachten Zitat unterstellt hatte) (4, S. 95):

Die Bildung eines Kristalls ist ein historischer Akt, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann - und der als solcher eine wichtige Rolle auch im Zusammenhang unseres Lebens oder der Welt spielen kann, selbst wenn er nicht vorherbestimmt gewesen ist. Zusammenhänge einer Art, die uns berechtigt, das Wort "Sinn" zu verwenden, können sich auch an Ereignisse anknüpfen, die ohne jeden Grund auch anders hätten ablaufen können.

Was für ein begeisternder Gedanke.

Ja, wie zentral ist dieser Gedanke. Wir können unser persönliches, individuelles Dasein so wie es sich ergeben hat im Lauf der Dinge als ein "Zufallsereignis" verstehen. Und dennoch kann dieses so zufällig aufgetretene Sein "Sinn" haben.

Das ist eine sehr grundlegende, wesentliche Einsicht. Anders gesagt: Ein Kristall, eine Schneeflocke gibt uns den Eindruck einer einzigartigen Eigenpersönlichkeit und damit von etwas irgendwie "Sinnvollem", ob er nun zu dieser oder zu jener Eigenpersönlichkeit geworden ist durch den "historisch" einmaligen Vorgang seiner Bildung. Und dieser Gedanke kann dann auch auf das menschliche Leben angewandt werden, so wie es Heisenberg in diesen Sätzen auch andeutet ("im Zusammenhang unseres Lebens oder der Welt"): Das Spiel des Zufalls gibt jedem Menschen eine ganz bestimmte Erbausstattung mit, die seine Persönlichkeit festlegt, es läßt ihn unter ganz bestimmten Zeitumständen geboren werden in ganz bestimmten familiären Verhältnissen. All das ist Zufall. Aber die Tatsache, daß dies alles Zufall ist, bedeutet noch lange nicht, daß die Zusammenhänge, in denen dies geschieht, ebenso wie das Ergebnis dieser Zufälle "sinnlos" sind.

Zuvor hatte Heisenberg auch die Rolle des Zufalls im Zusammenhang mit der Wärmelehre (der Thermodynamik) der Physik behandelt. Hier hatte er ausgeführt, daß die Wärmelehre des 20. Jahrhunderts, also der modernen, "atomistischen Physik" sich grundlegend unterscheiden würde von der Wärmelehre der "klassischen Physik" des 19. Jahrhunderts (4, S. 79):

Eine unmittelbare Folge dieses Umstandes besteht auch darin, daß eine eindeutige Determinierung zukünftiger Vorgänge in der atomistischen Wärmelehre unmöglich ist. Denn wenn uns die Temperatur eines Körpers gegeben ist, so bedeutet dies eben einen bestimmten Grad von Kenntnis oder Unkenntnis über das mechanische Verhalten der Atome, und für ihre zukünftige Bewegung läßt sich nur die Wahrscheinlichkeit angeben, mit der ein bestimmter Vorgang eintritt.

Das sind alles Gedanken, an die dann später - quasi unmittelbar - der belgische Physiker Ilya Prigogine angeknüpft hat, und die er weiter gedacht hat - sowohl von physikalischer wie philosophischer Perspektive (7). "Später" heißt jedoch immerhin: vierzig Jahre später.

Hier im Jahr 1941 umsann Werner Heisenberg Zusammenhänge, die dann innerhalb der nächsten zehn bis dreißig Jahre weiteren Klärungen entgegen geführt werden konnten, nämlich durch die Theorie komplexer ("kooperativer") Systeme, bzw. - von ihrer "Rückseite" betrachtet - "Chaostheorie" genannt. Die Klärung wurde herbei geführt durch die immer genauere Erforschung von chaotischen Phasenübergängen in Nichtgleichgewichts-Systemen wie eben jenem der Kristallbildung, in denen sich Chaos in Ordnung umwandelt. Diese Klärung bestätigte, daß Werner Heisenberg mit seinen Überlegungen schon 1941 und noch eher intuitiv im Wesentlichen richtig lag.

Also schon 1941/42 war der Bewußtseinsstand innerhalb der modernen Physik soweit vorgedrungen, daß der sogenannte "Laplace'sche Dämon", nach dem alles im Universum schon von Anfang an "determiniert" wäre in seinem Ablauf und wir nur nicht die ausreichende Kenntnis aller dieser Determiniertheiten hätten, als eine Fehleinschätzung des 19. Jahrhunderts erkannt worden war. Allerdings wurde dies - etwa hier von Heisenberg - offenbar noch nicht gar zu betont zum Ausdruck gebracht. Denn 1941/42 fehlte dazu womöglich noch die ausreichende Sicherheit, die man dazu erst in den nächsten Jahrzehnten gewonnen hat.

Eine 64-jährige Philosophin - Und die moderne Physik

Während nun der 40-jährige Werner Heisenberg in seinem Haus in Urfeld am Walchensee - sowie in Leipzig und in Berlin - die eben angeführten Gedanken umsann, saß in Tutzing am Starnberger See eine 64-jährige Philosophin an ihrer Schreibmaschine und schrieb an einem Buchmanuskript zur Philosophie der modernen Physik, in dem sie sich - vor allem in dem Kapitel "Sinnvolles Maß der Ursächlichkeit" - mit sehr ähnlichen Grundgesetzen unserer Existenz beschäftigte. Nämlich mit der Rolle des Zufalls in allem Weltgeschehen (3). Sie hatte schon im Jahr 1923 eine philosophische Gesamtdeutung des Werdens des Weltalls und des Lebens gegeben (1), von der einleitend schon die Rede war. Wir sagten schon, daß die oben zitierte Stelle aus heutiger Sicht besser zu formulieren wäre mit einem Satz wie:

"Niemals also war nur Chaos."

Denn natürlich liegt auch schon in Bezug auf die Vorerscheinung der Materie, in Bezug auf das Quantenvakuum ein Wechselspiel vor zwischen Naturgesetzlichkeit und Zufall. Es herrschte in ihm ebenso wenig nur Zufall wie in ihm nur Naturgesetzlichkeit herrschte. Auf diese Weise kann man dieses Zitat mit dem heutigen Kenntnisstand wieder ganz gut in Einklang bringen.

So einfach war es der Autorin dieser Worte im Jahr 1941 allerdings noch nicht gemacht. Man sieht, wie sie sich damals damit abmühte, die Wahrheit, die in diesen Worten noch damals und auch noch heute enthalten waren, von dem Irrtum abzuscheiden, den diese Worte zugleich so offensichtlich enthielten (3, S. 166f). Diese Trennung konnte ihr damals noch keineswegs so glücklich gelingen wie uns das heute so geradezu selbstverständlich und mühelos gelingt.

Abb. 3: M. Eigen, 1983 (Wiki)
Heute - nach der Klärung der Zusammenhänge, nachdem so und so viele Bücher über die sogenannte "Chaostheorie" erschienen sind, die bezeichnenderweise zugleich völlig identisch ist mit der "Theorie komplexer Systeme", nachdem das - das gesamte Werden im Universum durchziehende - Wechselspiel von Chaos und Ordnung verstanden ist, heute sprechen wir ganz einfach von diesem Wechselspiel, von dem Wechselspiel zwischen Zufall und Kausalität (2). Der Nobelpreisträger Manfred Eigen war es, der als einer der ersten in einer Buchveröffentlichung des Jahres 1975, die auch für Laien gedacht war, auf diesen Umstand hingewiesen hat (2). 

Durch diese Buchveröffentlichung hatten sich Zusammenhänge geklärt, über die die Menschen seit vielen Jahrtausenden nachgedacht hatten, ohne jemals zu einer befriedigenden Lösung zu gelangen. Und diese Klärung erfolgte in der überraschend einfachen Form, in der wir sie gerade formulierten. Und sie ist ebenso einfach auch schon im Untertitel des Buches fast vollständig enthalten: "Naturgesetze steuern den Zufall". Mit diesen wenigen Worten ist das Grundgesetz allen Naturgeschehens - und darin auch allen menschlichen Lebens - klar umschrieben. 

Ein Buch, das zu diesem Thema noch kurz zuvor den Ton angegeben hatte, und das dabei - dem Zeitgeist gemäß - die Rolle des Zufalls im Weltgeschehen weit über Gebühr hervorgehoben hatte - nämlich Jaques Monod's "Zufall und Notwendigkeit" (5) - war durch die Veröffentlichung von Manfred Eigen mit einem Schlag schon wieder Geschichte geworden.*) 

1975 - Manfred Eigen klärt die Zusammenhänge

In den 1920er Jahren - und noch bis 1941 - hatte man aber diese Klarheit der Zusammenhänge auf dem Gebiet der Naturwissenschaft noch nicht. Deshalb war es damals noch möglich, daß man als Philosoph einem "ungeordneten Chaos" eine "ordnende Spontaneität" entgegen setzen konnte (3, S. 151). Beide waren als akausal, als nicht determiniert verstanden worden. Und soweit wäre ja die damalige Deutung prinzipiell auch heute noch gültig. Aber das eine, das "Chaos", wurde damals als ein bloß zerstörerisches Prinzip bewertet, während die "Spontaneität" als ein zwar akausales, aber ordnendes Prinzip verstanden wurde. Eigentlich hätte man sich auch damals schon treffender auf Nietzsche berufen und verwegen ausrufen können:

"Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können."

Aber die chaotischen politischen Umstände der frühen 1920er Jahre - von denen ja auch Werner Heisenberg in seinen Lebenserinnerungen wieder und wieder spricht und um derentwillen er seine Lebenserinnerungen "Der Teil und das Ganze" nannte - mögen viel zu groß gewesen sein und als viel zu belastend empfunden worden sein, als daß sich damals schon jeder ebenso unbefangen dem Begriff Chaos hätte zuwenden können wie das zuvor schon Friedrich Nietzsche getan hatte.

Nietzsche hat unumschränkt Recht behalten. Man sieht nun im Jahr 1941, wie die genannte Philosophin darum ringt, jenes apodiktische Urteil über das "Chaos" wie sie es 1923 formuliert hatte, einzugrenzen auf jene Bereiche, in denen es weiterhin Gültigkeit haben würde. Schon 1941 war erahnbar geworden, daß der Zufall Zufall ist und erst mit der Steuerung durch die Naturgesetze entweder eine zerstörende oder aber eine ordnende Wirkung entfaltet.**)

Vermutlich waren sie als solche auch schon im Jahr 1941 von der Autorin zu erkennen. Dennoch hält sie zäh an diesen Worten fest, indem sie meint, sie hätten sich nur auf die Makrophysik bezogen. Allerdings spielt der Zufall nach heutiger Erkenntnis auf allen Ebenen des Seins eine sehr ähnliche Rolle. Das konnte die Autorin im Jahr 1941 so deutlich noch nicht voraussehen. Deshalb ist ihr womöglich zuzugestehen, daß sie hier an Worten festhielt, die schon im Jahr 1941 sehr wackelig geworden waren. Sie schreibt (3, S. 164):

Ein sinnvolles Maß der Kausalität, ein sinnvolles Mindestmaß an Finalität, so erwartet es unsere Erkenntnis, werden wir in dieser Schöpfung vereint sehen mit einem sinnvollen Mindestmaß an Chaos.

So heißt es 1941 und dieser Satz steht völlig im Einklang mit dem, was wir auch heute über dieses Weltall und seine Naturgesetze wissen. Immerhin gibt sie gleich im Anschluß an dieses erneute Anführen des Zitates von 1923 nun eine weitaus gültigere Wortfassung der tatsächlichen Zusammenhänge (3, S. 166):

Das sinnvolle Maß der Kausalität wird uns durch ein sinnvolles Maß der Gesetzlosigkeit, durch ein streng begrenztes "Chaos" in der mikroskopischen Erscheinungwelt in erstaunlicher Klarheit enthüllt.

Wir können heute die historischen Bedingtheiten besser erkennen, aus denen heraus eine so starke Abwertung des Begriffes "Chaos" erfolgte. Und die Philosophin selbst setzte sich im Jahr 1941 genauer mit der Wärmelehre in der Physik auseinander als sie das jemals bis dahin getan hatte und mußte dabei ebenfalls erkennen, daß sie 1923 gar zu apodiktisch den Begriff Chaos als einen unangemessenen Begriff zur Beschreibung des Urgrundes allen Seins zurück gewiesen hatte.

Sie hebt nun das Chaos insbesondere in seiner Bedeutung für das gesetzmäßige Schwinden des Universums hervor. Daß es für das Werden des Universums die gleiche Bedeutung hätte, wird allerdings noch nicht so deutlich gesagt, weil eben diese Konnotation des Begriffes "Chaos" mit etwas Zerstörerischem noch zu groß war. 

Sie mußte sich also diesbezüglich korrigieren, bzw., sie mußte die Begriffe, die sie verwendet hatte, präziser fassen. Aber auch bei dieser Korrektur blieb sie damals noch - sozusagen - "auf halbem Wege" stehen. Diese Erscheinung ist recht oft in diesem Buch von 1941 zu beobachten und sie macht klar, daß auch noch die 1940er Jahre eine Zeit des "Übergangs" war in unserem modernen Weltverstehen. Denn in den darauf folgenden Jahrzehnten konnte auf vielen Themengebieten der modernen Physik erst jene vollständige Klarheit und Sicherheit gewonnen werden, die damals - im Jahr 1941 - auf vielen Gebieten eben noch fehlte. Darum ist die Lektüre dieses Buches von 1941 so "spannend" und geradezu "erregend". Es "vibriert" in seinen Zeilen geradezu von Dingen, die künftig noch besser sollten geklärt werden können als sie es im Jahr 1941 waren.

Dies gilt übrigens auch für die Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie, die in diesem Buch enthalten ist. Auch hier bleiben die philosophischen Erörterungen - sozusagen - auf "halbem Wege" stehen, wollen sich weder völlig gegen die Relativitätstheorie von Einstein stellen, noch auch völlig für sie entscheiden. Und sie lassen die vormals, im Jahr 1923 niedergelegten philosophischen Intuitionen dabei auch - und womöglich mit manchem Recht - unangetastet.

/ leicht überarbeitet
und ergänzt (um: 7) : 14.7.22 /

____________ 

*) Das ist übrigens auch dann der Fall, wenn einzelne Philosophen auf diesen Umstand erst in künftigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten aufmerksam werden sollten. - Und übrigens ist auch von diesem Blickwinkel her ein Buchtitel wie "Zufall Mensch" (von Stephen Jay Gould) völlig neu zu bewerten.
**) Woher aber die Naturgesetze selbst ihre ordnende Macht erhalten haben? Soweit übersehbar, weiß die Wissenschaft auch heute noch zu dieser Frage keineswegs eine abschließende und befriedigende Antwort. Wie legten sich die "Spielregeln" dieser Welt - von selbst und ganz aus sich heraus - fest? Manches spricht auch aus naturwissenschaftlicher Sicht dafür, daß sie einem finalen Prinzip gehorchen, nämlich dem sogenannten "Anthropisches Prinzip". Das heißt, die Auswahl und Festlegung der Naturgesetze scheint davon bestimmt, daß sie das Werden bewußten Lebens in dem durch sie "determinierten" Weltall zulassen. Aber dieser Gedanke ist nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrages.
____________

  1. Ludendorff, Mathilde: Schöpfungsgeschichte. Verlag Theodor Weicher, Leipzig 1928 (zuerst 1923), https://archive.org/details/MathildeLudendorffSchoepfungsgeschichte/
  2. Eigen, Manfred: Das Spiel - Naturgesetze steuern den Zufall. Piper, München, Zürich 1975
  3. Ludendorff, Mathilde: Der Siegeszug der Physik - Ein Triumph der Gotterkenntnis meiner Werke. Ludendorffs Verlag, München 1941, https://archive.org/details/MathildeLudendorffDerSiegeszugDerPhysik
  4. Heisenberg, Werner: Ordnung der Wirklichkeit. Serie Piper, München 1989
  5. Monod, Jaques: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. Piper, München 1971 (Original 1970)
  6. Bading, Ingo: Studiengruppe Naturalismus: Ein kleiner Ausschnitt aus Erörterungen rund um naturwissenschaftliche Fragen in der Ludendorff-Bewegung der Jahre 1956 und 1957, 2017
  7. Prigogine, Ilya; Stengers, Isabelle: Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens. Piper Verlag, München, Zürich 1980 (zahlreiche Folgeauflagen)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen